Für die Öffentlichkeit war er der berühmte Philosoph, der Professor an der renommierten École Normale Supérieure in Paris
privat litt er an Depressionen. Es sei ein Leiden, das an die Hölle
grenzt, bekannte Louis Althusser. Obwohl er sich allen gängigen
Behandlungen - vom Elektroschock über die Analyse bis zu Schlafkur und
freiwilliger Internierung - unterzog und alle gängigen Psychopharmaka
schluckte, konnte er dem seelischen Terror, der "fürchterlichen
unergründlichen Leere" nicht entkommen. "Man wird mir gestatten, nicht
davon zu sprechen", schrieb Althusser. Aber die Krankheit sprach. Mit
Gewalt.
Holger Reiners, im öffentlichen Leben bekannt als erfolgreicher
Architekt und Unternehmensberater, hat sich entschlossen, von seiner
Depression zu sprechen. Das ist mutig, weil nur so das Stigma der
"Versagerkrankheit" durchbrochen wird. Und wichtig, weil der "Krebs der
Seele" inzwischen mehr als fünf Prozent der Deutschen heimsucht. Trotz
der Fortschritte in der medizinischen Forschung, trotz reichlicher
Angebote von der Pharmaindustrie bleibt die Depression ein
vielschichtiges Phänomen von undeutlichen Ursachen, schwierigen
Diagnosen und unsicheren Heilungschancen. "Für den, der sie nicht kennt,
ein nahezu unvorstellbarer Zustand", sagt Reiners nach 20-jährigem
chronischen Leiden. Reiners will Unwissende aufklären, Leidenden Mut
machen und erzählen, dass und wie es gelingen kann, sich aus den
Trümmern des Lebens "eine neue Heimat für das Ich aufzubauen".
Reiners berichtet von den Erfahrungen des Kindes, das die Liebe des
Vaters nicht "erringen" konnte, von der folgenden "unerklärlichen
Verzweiflung", vom Lebensmuster der Anpassung bis zum Verstummen der
eigenen Stimme, bis zur totalen Selbstentwertung ("Die Maschine Mensch,
die meinen Namen trägt, ist nicht nur irreparabel, sie hat auch keinen
Restwert mehr"). Und zeigt dann, wie der späte Abschied von den Eltern,
der Abschied von der "Illusion, irgendwann könne die Familie doch noch
ein schützender Kreis werden" der erste Schritt zur Besinnung auf die
eigenen Kräfte wird. Der Depressive, so Reiners, "ist krank, weil er an
krankmachenden Lebensmustern festhält".
Er selbst konnte loslassen, als er endlich einen Therapeuten fand,
der ihm das unerschütterliche Vertrauen schenkte, das ihm als Kind so
sehr fehlte.
Die leere Depressionshölle umzubauen in eine schützende Höhle für die
wunde Seele, versichert der Architekt, sei möglich - auch ohne Pillen.
Reiners hat sich auf den Weg gemacht. Jeden Morgen tritt er zum
Dauerlauf gegen die innere Lähmung an, seitdem er entdeckte, während
einer Kur in einer Sportklinik, dass physische Anstrengung dem
"antriebsarmen" Patienten auf die Sprünge hilft. Viele kleine Schritte
führten ihn zu Halt gebenden Lebensstrukturen, solche, die er sich
selbst wählte. Dieses Buch will Leidenden ein Anstoß zum Aufbruch sein
und eine Erinnerung daran, dass niemand von der Verantwortung frei ist,
"sein eigenes Leben mitzubestimmen - auch und besonders der
Depressionskranke".
Holger Reiners: Das heimatlose Ich
Aus der Depression zurück ins Leben
Kösel Verlag,
München 2002
Quelle: Zeit Online